Teil 1: Die Prioritäten der Automatisierer
Sind Sie ein Entwickler oder Architekt mit einem Hintergrund in Cloud, Big Data, AI & Analytics und haben bereits erste Erfahrungen mit Industrial IoT-Projekten gemacht? Dann werden Sie vermutlich mit einer Mischung aus Überraschung und Unverständnis auf manche technischen und kulturellen Unterschiede zwischen Automatisierern (OT = Operational Technology) und ‚richtigen‘ Software-Entwicklern (IT = Information Technology) reagiert haben. Vielleicht ist sogar das eine oder andere Projekt genau an der Frage gescheitert, wie man in der real existierenden Produktionsvielfalt an die passenden Daten in akzeptabler Qualität herankommt, obwohl der Business Case überzeugend schien.
Das muss oft nicht sein, wenn man einerseits die Prioritäten der Automatisierer versteht und ernst nimmt und andererseits mit einem geeigneten Werkzeugkasten startet.
Priorität 1: Verfügbarkeit
Das oberste Ziel in der Produktion ist die Vermeidung von Ausfällen. Nicht umsonst ist die Gesamtanlageneffektivität (Englisch OEE – Operational Equipment Effectiveness) die meist-gehypte Kennzahl im produzierenden Gewerbe. Schon Ausfälle der Steuerungen, Netzwerke oder SCADA-Systeme (SCADA = Supervisory Control and Data Acquisition) von 20-50ms können leicht die Produktion zum Stillstand bringen und zu längeren Standzeiten führen. Daher werden Anfragen eines IIoT-Projekts, Daten direkt von der Anlagen-Steuerung abgreifen zu dürfen, nicht gerne gesehen. Darüber hinaus müssten dafür vermutlich in einem geplanten Wartungsfenster die Programme der Steuerung angepasst werden und oft kann dies nur mit Zustimmung, Unterstützung und ggf. Bezahlung durch den Hersteller umgesetzt werden.
Priorität 2: Nutzungszeit der Maschinen & Anlagen
Industrielle Maschinen und Anlagen sind große Investitionen, die sich in der Regel nur über einen Zeitraum von vielen Jahren bis einigen Jahrzehnten amortisieren. Die elektronischen Geräte in Industrial IoT-Projekten sind keine aus Rechenzentren bekannten Computer und Server, sondern Speicherprogrammierbare Steuerungen (SPS), Eingabeschnittstellen (Human Machine Interface = HMI, also Panel-PCs) und Messgeräte und -zähler, die typischerweise Teil einer solchen Maschine oder Anlage sind. Bei alten Anlagen lässt oft der Patch-Level aus IT-Sicht zu wünschen übrig und im schlimmsten Fall haben die Programmierer vor langer Zeit die Firma verlassen. In jedem Fall darf man davon ausgehen, dass die physischen Schnittstellen und Protokolle nicht direkt kompatibel mit den üblichen APIs der modernen Softwareentwicklung sind und nicht beliebig viel Geld zur Verfügung steht, diese Hürden zu umschiffen.
Priorität 3: Sicherheit & Risiko
Wo die Gefahr von Cyber-Angriffen in der IT ganz maßgeblich das Lösungsdesign prägt, muss der Betriebsleiter in einer gewachsenen Produktionslandschaft den fehlerfreien Betrieb der Anlage sicherstellen und auch die Gefahr für Leib und Leben der Mitarbeiter berücksichtigen. Schließlich stellen IIoT-Gateways eine mögliche Störquelle und ein potentielles Einfallstor für Angreifer dar. Auch großes Optimierungspotential muss daher den möglichen Nachteilen eines entsprechenden Eingriffs gegenübergestellt werden und gut vorbereitet und getestet werden.
Das Herz Einer IIoT Lösung Ist Das Gateway (Bildquelle: Moxa)
Das wichtigste Werkzeug
Das zentrale Bindeglied zwischen IT und OT ist das IIoT-Gateway bzw. der Edge-Computer. Im Vergleich zur Cloud-Infrastruktur sind Performance und Speichergröße aufgrund der physischen Anforderungen stark beschränkt. Ausfallfreier Betrieb über oft 5-10 Jahre oder mehr verbietet die Nutzung von Lüftern und anderen beweglichen Teilen und schränkt die Nutzung von Batterien stark ein. Da dann in der Regel auch noch ein weiter Temperaturbereich gefordert ist, müssen die Hardware-Ingenieure diese „industrial grade“-Computer nach völlig anderen Designkriterien entwickeln als „enterprise grade“-Hardware. Gerade bei anspruchsvollen Machine-Learning-Anwendungen wie Computer Vision ergibt sich so ein möglicherweise überraschender physikalischer Zusammenhang zwischen der Anzahl der pro Sekunde zu verarbeitenden Bilder und der Größe des Gehäuses: Je mehr Performance, desto mehr Stromverbrauch und damit Wärme und desto größer ist die benötigte Gehäuseoberfläche für die passive Kühlung.
Dazu kommen Anforderungen, nach Stromausfällen in einem definierten Zustand zu starten, hohe Toleranz gegenüber Vibrationen, Spannungsspitzen und starker elektromagnetischer Strahlung, oft in Verbindung mit der Erfüllung bestimmter Standards und Normen wie etwa ATEX für explosionsgeschützte Umgebungen. Bei internationalen Projekten kommen Einfuhr-Zertifikate hinzu und und bei Produkten mit Mobilfunkmodulen auch die Genehmigungen der lokalen Mobilfunknetzbetreiber.
Wenn die Automatisierer das für Ihre Umgebung passende IIoT-Gateway oder Edge-Computer ausgewählt haben, muss sich der Cloud-Entwickler aber dank Docker-Technologie und den entsprechenden Laufzeitumgebungen der großen Cloud-Anbieter wie Microsoft’s Azure IoT Edge inzwischen um solche Details kaum noch kümmern.
Schwieriger wird es, angesichts der obigen Prioritäten der Automatisierer, an die gewünschten Daten heranzukommen. Glücklicherweise hat der Trend zu stärkerer Automatisierung bereits im Laufe der letzten Jahrzehnte zu einem breiten Produktportfolio für die Anbindung von immer mehr industriellen „Dingen“ an SCADA-Systeme geführt, von denen IIoT-Projekte nun profitieren können.
Greenfield Datenerfassung über OPC UA (Bildquelle: Moxa)
Datenerfassung am Gerät – „Greenfield“
Bei der Neuerrichtung von Produktionsstätten „auf der grünen Wiese“ darf man davon ausgehen, dass die wichtigen industriellen Geräte bereits mit einem Ethernet-Port ausgestattet sind, grundsätzlich also direkt mit einem IIoT Gateway kommunizieren können – eine Netzwerkverbindung und passender Protokoll-Stack vorausgesetzt. Insbesondere die zunehmende Verbreitung des OPC UA-Standards erleichtert im Greenfield-Szenario die Kommunikation und Weiterverarbeitung der Daten in beide Richtungen enorm.
„Brownfield“-Datenerfassung ist oft eine Herausforderung (Bildquelle: Moxa)
Datenerfassung am Gerät – „Brownfield“
Der weitaus größere Anwendungsfall ist aber die Anbindung bestehender Anlagen. Hier hat das IIoT-Projektteam zwei grundsätzliche Optionen: invasive Datenerfassung, also die direkte Anbindung von Steuerungen, Sensoren und anderen Geräten und nicht-invasive Datenerfassung durch die Anbringung von zusätzlichen Sensoren, ohne in bestehende Lösungen einzugreifen.
Heute gehen Projektteams oft den Weg des geringsten Widerstands und entscheiden sich für die nicht-invasive Datenerfassung. Besonders die erfolgreiche Etablierung des IO-Link-Standards aber auch die herkömmliche Einbindung von Sensoren über sogenannte Remote I/O-Geräte schafft hier eine schnelle und einfach Datenerfassung. Auch die zunehmende Reife drahtloser Kommunikation wie WLAN, LoRa, Bluetooth Low Energy und zukünftig auch 5G eröffnen hier ganz neue Möglichkeiten für die schnelle und unkomplizierte Installation von IIoT-Infrastruktur.
So entstehen aber auch zusätzliche Kosten und Wartungsaufwand und für viele Anwendungsfälle fehlen wertvolle Daten aus der Maschine oder Anlage selbst. Auch der Kommunikationsweg zurück zur Maschine ist erst einmal versperrt. In einigen Fällen lässt sich mit relativ wenig Aufwand eine wesentlich bessere integrierte Lösung umsetzen. Die Automatisierer haben bereits seit geraumer Zeit Tipps & Tricks entwickelt, um Sensoren, Geräte und Anlagen an ihre SCADA- und DCS-Systeme (DCS = Distributed Control System) anzuschließen. Diese lassen sich oft auch für IIoT-Projekte einsetzen. Dazu mehr in Teil 2.